- Wagner und das Musikdrama
- Wagner und das MusikdramaRichard Wagner war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler seiner Epoche. Bewundert und verehrt, aber auch scharf kritisiert, zeigt sein Schaffen bis heute eine fruchtbare und intensive Rezeptionsgeschichte, die nicht nur seine musikalischen Werke, sondern auch seine ästhetischen Schriften betrifft, und die mit der starken Ausstrahlung seiner Persönlichkeit und der Nachwirkung seiner Anregungen, namentlich von Bayreuth aus, eng verflochten ist.Wagners Opernschaffen lässt sich in drei Perioden untergliedern. In der ersten Periode übernahm er Gattungstraditionen, die er bei seinen Zeitgenossen vorfand. So knüpft sein erstes Bühnenwerk, »Die Feen« (1834) stilistisch an Heinrich Marschner an. »Das Liebesverbot« (1836) dagegen ist eine halb buffoneske, halb revolutionäre Anlehung an italienische und französische Vorbilder. Beide Opern galten ihm später allenfalls als Vorstufen und frühe Versuche, während sich im »Rienzi« (1840) schon die Stilmerkmale der Reifezeit zeigen, auch wenn Text und dramatische Gestaltung noch der Großen Oper im Sinne Gaspare Spontinis und Giacomo Meyerbeers verpflichtet sind.Nach Wagners eigenem Verständnis beginnen seine eigentlich relevanten Bühnenkompositionen mit der in Dresden 1841 uraufgeführten romantischen Oper »Der fliegende Holländer«. Bestimmende Elemente seines Schaffens treten hier schon hervor: die stoffliche Grundlage der Sage, die ins Große und Dämonische tendierenden Figuren, die Idee der Erlösung durch eine über den Tod hinaus reichende Liebe, ein daramtisch inspiriertes Gesangspathos und eine expressive Orchestersprache, die durch differenzierte Klangfarben und beziehungsreiche Motivverknüpfung in die Handlung integriert ist. Auch das an Carl Maria von Weber und Marschner anknüpfende Bestreben, die traditionelle Nummernoper durch ausgedehnte, organisch verbundene Szenenentwicklungen zu überwinden, ist bereits deutlich zu erkennen.Im »Tannhäuser« (1845), dessen Sujet einer romantischen Sicht des deutschen Mittelalters entspringt, wird die Erlösungsidee antithetisch in die Spannung zwischen sinnlich ekstatischer Leidenschaft und hoher, reiner Liebe eingebunden. Kompositorisch verstärkt sich die Tendenz zu großräumigen Strukturen und vielschichtiger klanglicher Charakterisierung. Zentrale Partien des Werkes, etwa die Venusbergszene oder die »Rom-Erzählung«, sind in ihrer Konzeption durchaus neuartig und mit zeitgenössischen Opernformen nicht mehr vergleichbar. Der »Lohengrin« (1848), das letzte Werk der zweiten Schaffensperiode, greift ein Element der Gralssage auf und verbindet die Erlösungsidee mit dem Motiv der vertrauensvollen, fraglos unbedingten Hingabe und Liebe. Die weitgehend durchkomponierte Oper bildet eine unmmittelbare Vorstufe zu den Musikdramen der dritten Schaffensperiode.Hierauf folgte eine Zeit schöpferischer Besinnung. Wagner, der als Beteiligter am Maiaufstand 1848 aus Dresden fliehen musste, um nicht verhaftet zu werden, verfasste in der Zeit seines Züricher Exils eine Reihe von kunsttheoretischen Schriften, die vorrangig die geschichtliche Situation der Oper und das Programm ihrer grundlegenden Erneuerung aus seiner Sicht behandeln. Unter ihnen ist »Oper und Drama« (1851) die bedeutsamste, da sie, ausgehend von einer Kritik am zeitgenössischen Opernwesen, Sinn und Gestalt des Musikdramas ausführlich entwickelt.Das Musikdrama Wagners, das Anregungen der literarischen Romantik weiterführt, ist der Idee nach ein Gesamtkunstwerk, in welchem die Einzelkünste zu einer übergreifenden Ganzheit verschmelzen sollen. Realisiert hat Wagner später insbesondere die Verbindung des dichterischen mit dem musikalischen Element, indem er Sprache und szenische Anlage unmittelbar auf die Komposition hin entwarf und umgekehrt die Musik ganz in den Dienst des dramatischen Ausdrucks stellte. Stabreim, freie Metrik und eine ungebundene, prosaartige Melodik verbinden sich zur »dichterisch-musikalischen Periode«, deren innere Bewegung der Situation der handelnden Figuren lebendig folgt. Daher meidet der Gesang Formmodelle wie Rezitativ und Arie zugunsten einer frei sich entfaltenden »unendlichen Melodie«, die vom Orchester als dem Medium psychologischer Ausdeutung umgeben und getragen wird. Ein wesentliches Mittel ist hierbei das »Leitmotiv«, das mit Personen, Gegenständen, Gefühlen und Handlungskostellationen assoziativ verbunden sein kann. Wiederholungen, Veränderungen und Verknüpfungen mit anderen Leitmotiven schaffen großformale Zusammenhänge und bilden ein dichtes Beziehungsgeflecht zur Interpretation des dramatischen Geschehens.Besonders deutlich wird das an dem vierteiligen Zyklus »Der Ring des Nibelungen«, mit dessen Entwurf die dritte Schaffensperiode beginnt. Der Stoff entstammt der germanischen Sage, wird jedoch unter dem Einfluss literarischer und philosophischer Zeitströmungen aktualisiert und symbolisch verdichtet. Elemente aus Pierre Joseph Proudhons anarchisch-utopischen, Michail Bakuninsrevolutionären, Ludwig Feuerbachs atheistischen und Arthur Schopenhauers pessimistischen Gedankenansätzen vereinen sich bei Wagner mit der Zukunftsvision eines selbstverantwortlichen, hohen Menschentums, das die Welt aus den Zwängen von Macht und Schuld erlösen soll.Der hieraus entwickelte Plan, vier Opern riesenhaften Ausmaßes zyklisch zu verbinden, ergab sich erst allmählich aus der Einsicht, dass der Tod des freien Helden Siegfried und der »entsühnende« Untergang der Götterwelt nur als Abschluss eines universalen mythischen Prozesses, der mit dem urzeitlichen Raub des Rheingoldes einsetzt, darzustellen war. So entstanden nach ersten Entwürfen aus den Jahren 1848 bis Ende 1852 zunächst der gesamte Text, sodann die Komposition der Opern »Rheingold« (1853/54), »Walküre« (1854 bis 1856) und fast zweier Akte des »Siegfried« (1856/57), ehe die Arbeit nach langer Unterbrechung mit dem Schluss des »Siegfried« (1869) und der »Götterdämmerung« (1869 bis 1874) abgeschlossen wurde.Während die Arbeit am »Ring«, dessen Vollendung eng mit der Realisierung der Festspielidee in Bayreuth verbunden war, ruhte, schrieb Wagner zwei weitere Opern, die zwar im Kern den Prinzipien des Musikdramas folgen, in Einzelheiten jedoch davon abweichen. »Tristan und Isolde« (1859; uraufgeführt 1865 in München) interpretiert die schicksalhaft tragische Beziehung zweier Liebenden auf dem Hintergrund einer romantischen Metaphysik der Nacht und des Todes - im Sinne von Novalis' »Hymnen an die Nacht« (1800) - und der Schopenhauerschen Philosophie von der Verneinung des Willens zum Leben. Musikalisch ist »Tristan und Isolde« im Unterschied zum »Ring« in starkem Maße sinfonisch konzipiert. Statt aus abgrenzbarer, plastischer Leitmotivik entwickelt sich die Komposition aus der geradezu unerschöpflichen Variation einer klanglichen Uridee, des berühmten »Tristan-Akkords« zu Beginn des Vorspiels. Die totale Chromatisierung des melodischen Materials und eine die Grenzen der Tonalität fast überschreitende Alterationsharmonik lassen bereits den krisenhaften Prozess der abendländischen Musik erkennen, der von hier aus kontinuierlich bis zum Beginn der Musik des 20. Jahrhunderts führt.»Die Meistersinger von Nürnberg« (1867) wirken demgegenüber fester gefügt sowie musikalisch und szenisch stärker gegliedert. Geschlossenere Gebilde (Preislied, Fliedermonolog) sowie Ensembles und Chöre werden wieder einbezogen und auf den Grund einer klareren, vorwiegend diatonischen Harmonik gestellt. Die Handlung erwächst aus der Konfrontation des genialischen Künstlers mit dem Regelwerk spätmittelalterlichen Zunftgesangs. Die Synthese beider, die Bindung spontanen Schöpfertums an eine frei gewählte Gesetzlichkeit, verdeutlicht Wagners eigene ästhetische Position. Sie wird in der Oper selbst thematisiert: Auf Stolzings Frage »Wie fang' ich nach der Regel an?« antwortet Hans Sachs »Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.« Mit den »Meistersingern« schuf Wagner seine populärste Oper. Sie enthält aber auch einen kräftigen Zug deutsch-nationalen Eigenwertgefühls, der im Dritten Reich ohne große Mühe ideologisch umgedeutet und ausgenutzt werden konnte.Den Abschluss im Schaffen Wagners bildet »Parsifal« (1882), ein »Bühnenweihfestspiel«, dessen ins Christliche gewendete Erlösungsidee Friedrich Nietzsche in »Der Fall Wagner« (1868) schärfstens kritisiert hat. Charakteristische Grundtönungen des Werkes sind Ruhe und Andacht, Überwindung und Läuterung, von denen sich Verzweiflung und Leid, Sünde und Sinnlichkeit als erschütternde Kontraste abheben. Hymnische Dreiklangsakkordik, weiträumige Melodik sowie eine flächig gedehnte Rhythmik symbolisieren die Welt des Grals, rasche Klangbewegungen, Dissonanzhäufung und Chromatik die Spähre des Verworfenen, des abtrünnig Erotischen und die Sehnsucht nach dem Heil. Bestimmende Merkmale eines personalen und epochalen Spätstils sind die polyphone Orchesterbehandlung und eine herbe, funktional oft kaum noch deutbare Harmonik. Ohne Vorbild in der Bühnenliteratur ist die doppelgesichtige Gestalt der Verführerin und Büßerin Kundry. Ihr Gesangspart berührt Extrembereiche vom Flüstern und Stammeln bis zum wilden Schrei, was nachhaltig auf spätere Rollenzeichnungen, zum Beispiel in Richard Strauss' »Salome« (1905) und Alban Bergs »Wozzeck« (1925) eingewirkt hat.Prof. Dr. Peter SchnausKurth, Ernst: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan«. Berlin 1923. Nachdruck Hildesheim u. a. 1985.Schreiber, Ulrich: Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. 2 Bände. Lizenzausgabe Kassel u. a. 1988—91.
Universal-Lexikon. 2012.